Paranormale Phänomene
Die große Premiere von Bens Verfilmung "Verschwunden im Wald" steht kurz bevor. Bens Freundin Laura wartet noch auf die anderen im Foyer und bekommt eine böse Vorahnung. Fatal entpuppt sich die Kinovorstellung als verheerende Katastrophe ...
ZEITREISEN • LOST PLACES • MYSTERY
Die Reihe "MARCO IMM" besteht insgesamt aus drei Teilen, die in sich jeweils abgeschlossen, dennoch lose miteinander verwoben sind. Das größte Geheimnis jedoch, ob es wirklich einen freien Willen gibt, der alles bestimmt, wird erst im Zusammenhang zwischen den Zeilen gelüftet.
Mit welchem Band wirst Du Deine Reise beginnen?
Prolog Band 3 & Vorwort des Autors
Nach einer unfassbaren Kinopremiere reisen Laura und Ben zu längst vergessenen Orten, um das schreckliche Trauma zu überwinden, welches immer noch tief in ihnen schlummert.
Das unheimliche Ding aus Bens Kindheitstagen ist zurück. Es wird auch Dich bis in Deine Träume verfolgen ...
Bevor Du nun mit The Graphic Novel startest, möchte ich Dir etwas zur Entstehung erzählen - und warum es sich lohnt, an seine Träume zu glauben, selbst wenn sie in weiter Ferne schweben.
Schon als kleines Kind interessierte mich die Filmerei. Ich weiß noch, wie ich mir öfters den Camcorder meines Vaters schnappte, um kurz das Bild einzufangen, was sich vor meinen Augen abspielte. Später träumte ich, eine eigene Serie zu drehen, wie man sie im Fernsehen vorfindet. Schauspieler hatte ich schon: Meine LEGO-Figuren besaßen bereits alle einen Namen (zumindest die Hauptcharaktere), und eine Grundstory gab es auch. Es ging um ein Königreich, das immer wieder von Streitmächten angegriffen wurde, um es zu besetzen. Stärke und Entschlossenheit waren die größten Waffen, den Feind zu vertreiben.
Als Vorspann meiner kleinen Serie, die sich in meinem Kinderzimmer in Gräfenhainichen abspielte, musste der Song Like A Hurricane von C. C. Catch herhalten, den Du vermutlich noch kennst (und der dazu auch noch passend klang). Ich überspielte den Refrain auf eine Tonbandkassette und nutzte meinen tragbaren CD-Player zum Abspielen, der ein praktisches Kassettendeck mit Aufnahmefunktion besaß. Gott, ich bekomme jetzt grad' tierische Gänsehaut, da der Song im Hintergrund läuft, während ich diese Zeilen in meinen PDA tippe.
Mein Wunsch war es, eine Serie wie Pokémon auf die Beine zu stellen. Die einzigen Effekte, die ich besaß, waren meine Hände und eine große Portion Fantasie. Da mein Vater seine gefilmten Aufnahmen nur auf VHS-Kassette (später dann auf DVD) überspielte - und wir zum damaligen Zeitpunkt noch keinen Schnittrechner besaßen -, wär' die Umsetzung schier unmöglich und viel zu kostenintensiv geworden.
Mein Traum wanderte ins Hinterköpfchen, doch er verschwand nie. Zu gern' hätte ich das LEGO-Filmset von Steven Spielberg gehabt, doch zu diesem Zeitpunkt besaß ich noch keinen PC.
Unser erster Laptop, der dann einige Zeit später als viertes Familienmitglied einzog, hätte zwar von der Leistung her gereicht, doch das Set passte irgendwie nicht mehr zu mir. Wenn ich Videos gedreht hätte, dann auf professionellerer Art.
Mehr als zehn Jahre verstrichen - und die Videoidee wurde durch den YouTube-Hype wieder in mein Köpfchen gespült. Anfangs nutzten Jeannette und meine Wenigkeit die Plattform, um für unser gegründetes Business Werbeclips zu erstellen. Später folgten Reportagen und Interviews auf Messen, wo Jeannette ihre Moderationsfähigkeit unter Beweis stellen durfte.
Irgendetwas fehlte (soviel wusste ich), als ich mit dem Schreiben Ende 2018 begann. Warum mir nicht die Spielfilmkamera in den Sinn kam, kann ich bis heute nicht sagen. Vielleicht war ich so vertieft ins Schreiben, dass sie mir selbst in nächtlichen Träumen nicht vorkam.
Wenn man ein Ziel anstrebt, blendet man den Rest seiner Umwelt aus. Die Filmkamera schlummerte in der Tasche und wurde erst Anfang 2020 wieder rausgekramt, als wir begannen, passende Trailer zu Verschwunden im Wald zu drehen. Mir bereitete die Arbeit am Set so viel Spaß, dass ich am liebsten gleich eine Verfilmung draus gemacht hätte. Doch so eine Produktion verschlingt eine Menge Ressourcen. Obwohl Jeannette und ich Ende 2020 sogar Anfragen von angehenden Schauspielern bekamen, hätten wir eine Filmproduktion finanziell nicht stemmen können. Und da wir grundsätzlich keine halben Sachen machen, kam auch ein Kurzfilm nicht infrage. Weiterhin fehlte mir die Zeit, da die Idee zu Band 2 verwirklicht und zu Papier gebracht werden wollte.
Nach traurigen Schicksalsmonaten im ersten Quartal 2022 fiel mir der Hi8-Camcorder meines verstorbenen Vaters beim Sortieren seiner Sachen in die Hände, was mich auf die Idee brachte, meine Filmkamera wieder aus der Ecke zu holen, um ihr ein neues Leben einzuhauchen. Ich fragte mich, was die Kamera noch für einen Sinn mache, wenn sie die meiste Zeit in der Ecke stünde ... Nur, um mit ihr ab und zu einen Trailer zu produzieren, war sie mir einfach zu schade. Ursprünglich stammte sie aus einer Universität, und bot nun ein trauriges Dasein, wenn mein Blick auf die SONY-Tasche fiel, in der sie schon viel zu lange ruhte.
In der Zwischenzeit hatte Jeannette ihre Leidenschaft zur Kunst entdeckt, was uns auf die Idee brachte, Band 3 als interaktive Graphic Novel herauszubringen, zum Beispiel mit weiterführenden QR-Codes unterhalb der Grafiken. Doch als gedrucktes Buch wären selbst Bleistiftzeichnungen aufgrund unterschiedlicher Grautöne kaum umsetzbar gewesen. Außerdem wollte sich Jeannette mit ihrer Kunst entfalten - und sich nicht wegen einem einzigen Buch mit Cover und dezenten Bildbeilagen beschränken. Sollte danach die Kunst also wieder einschlafen und zurück ins Märchenland wandern, wo sie ursprünglich erwacht war? Ganz bestimmt nicht!
Nun ist es so, dass nicht alle Situationen grafisch umsetzbar sind. Wie lassen sich am besten paranormale Phänomene darstellen? Eine Frage, die uns Tage und Nächte beschäftigte und uns jede Menge Nerven kostete. Dabei lag die Lösung direkt vor unseren Füßen - beziehungsweise stand in einer Zimmerecke - und wartete nur darauf, von uns wieder ausgepackt zu werden.
Nichts im Leben geschieht durch Zufall; und dass uns ein familiärer Schicksalsschlag auf die Filmkamera wieder aufmerksam machte, war eine Kettenreaktion einer höheren Macht, die der begrenzte Verstand nicht mal ansatzweise erfassen kann. Das muss er auch nicht, wie ich finde. Die Hauptsache ist doch, dass ich meinen Kindheitstraum nicht in einer Ecke vergammeln ließ, sondern nun endlich verwirklichen konnte.
Erst mit den Clips, die Du in der Graphic Novel findest, wird die Geschichte rund. Paranormale Phänomene erhalten dank originalem Filmmaterial viel mehr als nur ein Gesicht. Sie werden greifbar, auch wenn es uns selber schwerfällt, sie zu begreifen.
In The Graphic Novel nehmen wir Dich mit auf eine unbekannte Reise, von der Du schon immer geträumt hast. Ich wünsche mir, dass Du von der Story ebenso begeistert sein wirst, wie diese mich weiterhin ans Schreiben fesselt.
Marco Imm
Landsberg, 14. Februar 2023
Drehbuch-Leseprobe
• Gruseliger als "Verschwunden im Wald"
• Schocker des Jahres nach wahren Begebenheiten
• Fans von "Silent Hill", "It Follows" oder "The Blair Witch Project" kommen bei dieser fesselnden Geisteratmoshäre voll auf ihre Kosten
• Wer Stephen King mag, wird "The Graphic Novel" nicht mehr loslassen
• "Verschwunden im Wald": So weiß wie ein Wintermärchen. "Spuren vergangener Zeiten": Pechschwarz wie Josephines Fluch. Und "The Graphic Novel"? Einfach nur bösartig düster - so, wie der Abgrund zur Hölle
-1-
Im gemütlichen Gleichschritt liefen sie dicht nebeneinander. Keiner von beiden sagte etwas. Und irgendwie gab es auch grad’ nichts zu sagen. Selbst wenn der Tag so richtig beschissen begonnen hätte, obwohl doch genau das Gegenteil ihn überraschen wollte, war er nun froh, dass der Abend sich langsam näherte. Es gab nichts Schlimmeres, als ungeduldig auf etwas zu warten. Obwohl, vielleicht gab es da doch was: Beispielsweise, von jemandem maßlos enttäuscht zu werden.
Ich hoffe nur, dass ich diesen Freitag überlebe …
Sein Gedankengang war nicht ganz unbegründet, auch wenn er sich sonst überhaupt nichts aus solch’ dummen Sprüchen machte. Außerdem war es nicht nur reiner Aberglaube, sondern auch ziemlich kindisch, wenn jemand von irrsinnigen Gefahren und Schicksalsschlägen sprach. Es war sogar lächerlich – nur weil heute Freitag, der Dreizehnte war.
Einer von etlichen, dachte er sich und winkte den Gedanken ab. Nie ist etwas Großes passiert. Warum sollte das heut’ anders sein?
Hätte er seine Gedanken ausgesprochen, wären erhebliche Zweifel an die Oberfläche getreten. Bestimmt hatte das alles mit der ungewohnten Situation zu tun. Und wenn etwas ungewohnt war, brauchte es doch immer erst einen kräftigen Tritt, bevor etwas losrollen konnte – egal, ob es sich um eine Maschine handelte … oder um ein Familienmitglied, welches man in die entscheidende Richtung zurücklenken musste.
»Alles okay, Schatz?«, fragte Laura und sah ihn von der Seite an. Ein paar Haarsträhnen fielen ihr dezent ins Gesicht und wippten erfreut, während ihre Beine dazu einen taktvollen Gleichschritt vollzogen. »Basti wird schon kommen.«
Wieso kommt sie eigentlich immer darauf, dass ich mir Sorgen um ihn mache? Als wenn sich die Welt nur um ihn drehen würde …
»Ja … ich meine: Nein, es geht nicht um Basti. Ich hab’ nur grad’ so einen dummen Einfall gehabt.« Er sah kurz zu ihr herüber und bemerkte ihren Gesichtsausdruck: Sie wollte mehr wissen. »Du weißt schon … Heute ist der 13. Mai.«
»Natürlich weiß ich das. Mein Glückstag. Und deshalb wird die heutige Premiere auch außergewöhnlich werden. Die meisten Vorstellungen finden sonst immer donnerstags statt.«
»Genau! Genau deshalb«, betonte er. Seine Stimme beschleunigte wie ein Rennwagen. »Findest du das nicht merkwürdig? Die vielen Zusammenhänge … was wir erlebten …«
»Ich hab’ das mit der Kinoleitung so vereinbart«, unterbrach sie seine Aufzählung und fing an zu kichern.
»Du warst das?« Er blieb stehen und riss seine Augen weit auf. Nervös fuhr er sich durchs kurz geschnittene Haar.
Laura erwiderte seine Reaktion, hielt an und meinte: »Aber ja! Ich dachte, du freust dich darüber. Die freundliche Dame am Telefon meinte, ich solle mir ein Wunschdatum aussuchen. Es standen sogar mehrere Termine zur Auswahl …«
»Warum hast du mir nichts gesagt?«, fuhr er sie an und wurde laut. Ein paar Leute, die an ihnen vorbeiliefen, drehten sich zu ihnen herum. Doch davon bekamen sie nichts mit.
»Schon mal was von Überraschung gehört?« Ihre Freude war sichtlich im Eimer und schmolz wie Eis in der Sonne.
»Tut mir Leid«, gab er bestürzt von sich. »Du wolltest mir entgegenkommen – und ich hab’s mal wieder vermasselt.«
»Hey!«, sagte sie und kam so nah, dass er ihren Atem spürte. »Du hast gar nichts vermasselt, okay? Gib dir nicht dauernd die Schuld. Du hast eine schwere Zeit hinter dir … wir alle. Und ich will nicht, dass sich der ganze Spaß wiederholt.«
Laura hatte Recht. Und allmählich sah er es auch ein. Schließlich konnte er froh sein, dass die Vorstellung heute stattfand – und nicht einige Wochen später. Die Drehtage hatten ihm bereits den letzten Nerv gekostet. Undenkbar, dass er diesen Ballast noch länger mit sich herumtragen sollte. Dieser Abend sollte sein Leben – und das Leben seiner Freundin – wieder ins rechte Licht rücken. Hoffte er. Sie hatten sich nicht umsonst abgestrampelt und das Projekt knallhart durchgezogen, obwohl jeder kaum noch konnte.
»Ich will auch, dass es endlich vorbei ist, Laura. Nicht nur du. Glaub’ mir.« Wieder liefen Menschen wie Komparsen an ihnen vorbei, als drehten sie den Film weiter. Ben achtete nicht auf sie. In diesem Moment war es für ihn so, als befinde er sich mit seiner Kirsche ganz allein in einem Konferenzraum. Besprechung unter vier Augen, fiel ihm spontan ein. Wenn man vor die Tür gesetzt wird, bricht die Welt um einen auch zusammen.
Seine Wahrnehmung war der einzige Schlüssel, den er heute Abend bei sich trug. Laura hatte beschlossen, die Wohnungsschlüssel in ihrer Handtasche zu verstauen. Elegant hob sie die helle Ledertasche mit ihren Fingern etwas an und ließ den schmalen Umhängeriemen von ihrer Schulter gleiten, um etwas herauszuholen: »Vielleicht muntert das dich auf …«
»Du schleppst mein Erfolgsjournal mit?«, fragte er entsetzt und zeigte auf sein petrolfarbenes Büchlein im A6-Format, welches sie ihm dicht vor die Nase hielt. In seiner Stimme lag so was wie Angst. Angst, einen großen Fehler zu begehen …
»Es ist unser Journal – klar?«, machte sie ihm deutlich. »Schließlich hast du während der Dreharbeiten alles dokumentiert und festgehalten. Und bei unserer ersten Kinopremiere gehört das schließlich dazu und darf nicht fehlen.«
»Verstehe! Du willst die Kinokarten ins Buch kleben. Warum bin ich eigentlich nicht selber auf die Idee gekommen?«
»Weil du mit anderen Dingen beschäftigt warst«, antwortete sie und kramte einen Klebestift aus der Tasche. »Es muss wie ein Ritual vor Ort geschehen.« Nach einer kurzen Pause: »Na also! Dein Gedankenlesen wird deutlich besser, wie ich finde. Geht doch. Und du beschwerst dich …« Es klang so, als hätte sie das Buch nur hervorgekramt, um ihn zu testen.
»Ich hab’ auch hart geübt«, meinte er und lief weiter. Laura packte die beiden Dinge wieder zurück und folgte ihm.
Vor ihnen erstreckte sich das Neustadt-Centrum, das wie ein Schiff von außen wirkte. Immer, wenn Ben das Shopping-Center betrachtete, musste er an den Film Ghost Ship denken. Nicht, dass das Center geisterhaft leer wär’: Ben verband imposante Gebäude immer mit irgendetwas. Als er Luisa dank Bastis geniale Idee – einen Puff zu betreten – kennenlernte, hatte er während der Autofahrt zum Fabrikgelände gespürt, dass er ebenfalls diese Fähigkeit in sich trug, von der sie damals erzählte. Nur war er in Gedanken abgedriftet gewesen, sodass sein Unterbewusstsein diese Informationskette erst nach und nach an die Oberfläche spülen musste. Das war mit allem so. Trotzdem konnte er partout nicht verstehen, warum manche Dinge immer wieder dieselben Bilder in einem selber hervorkramten, mit denen man im Prinzip nichts weiter zu tun hatte. Es war ein ungelöstes Rätsel, das sich einfach nicht auflösen wollte, auch wenn man sich noch so sehr anstrengte.
»Kommt mir wie ein Déjà-vu vor«, sagte Laura und strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Als wir zu deiner zweiten Autorenlesung liefen, lag auch so eine Energie in der Luft.« Es klang wichtig, wie sie die Worte penibel formte.
»Das Wetter war an jenem Tag nicht das beste, wie du sicherlich noch weißt.« Laura spürte sofort, dass Ben sich nur rausreden wollte. »Muss wohl am Herbst gelegen haben … und weil Basti kurz davor verschwunden war. Bestimmt sind das noch Energiereste, die sich hin und wieder zeigen.«
»Ich wünschte, du hättest damit Recht«, sagte sie und drehte sich um. Ben dachte, Laura hätte jemanden gehört, der nach ihr rief. Als er sich ebenfalls umdrehte, sah er nichts weiter als ein paar Geschäfte, die einer etagenförmigen und offenen Passage glichen. »Zumindest weiß ich jetzt, was du damals meintest.« Erst dachte er, Laura meinte Lisa damit. Die Situation in der Buchhandlung ähnelte dieser hier stark.
Wieder blieben sie stehen. »Laura, die Sache mit Mirko ist vorbei, okay?«, gab er stattdessen von sich. »Ich spüre nichts mehr – im Gegensatz zu damals. Wir hatten die Schweine in der Klinik erledigt … Und es wird nichts mehr passieren.«
»Aber es stand nichts in der Zeitung«, warf sie ein. »Auch nichts im Netz. Ich meine: Die Sache hätte doch irgendwann auffliegen müssen, wenn die Polizei sie gefunden hätte …«
»Die Dreckskerle waren untergetaucht«, unterbrach er sie. »Kein Aas interessierte sich für sie. Daran wird sich auch nichts mehr ändern. Wer soll eine alte Psychiatrie besuchen?«
Es ist der Fluch, Ben, nervte ihn seine innere Stimme. Wie schön wäre es gewesen, wenn auch sie untergetaucht wäre. Doch das war ein Wunschdenken. Du hast selber behauptet, dass jeder für immer betroffen ist, der mit dem Ding in Berührung kommt …
»Und Sarah Kulmer?«, fragte Laura. »Was ist mit der?«
»Hey! Die hatte einfach Schiss gekriegt und ist abgehauen. Wir sollten nicht mehr darüber nachdenken, sondern uns heute einen schönen Kinoabend machen. Ich weiß nicht, warum du ausgerechnet jetzt wieder davon anfangen musst …«
»Das hab’ ich dir doch grad’ eben eindeutig versucht zu verklickern: Weil ich was spüre. Hier stimmt was nicht, Ben.«
Eigentlich unmöglich, dass nur Laura etwas wahrnimmt. Ich merke absolut null. Bildet sie sich das nur ein? Nein, das ist untypisch für sie.
»Und was schlägst du nun vor?«, versuchte Ben, sie selber vor eine Entscheidung zu stellen. Er hielt das für wichtig.
»Umkehren ist blöd«, meinte sie. »Es wär’ blamabel, wenn wir nicht zu unserer eigenen Vorstellung gehen würden, nur weil wir uns nicht trauen.« Sie klang wie ein kleines Mädchen, das vor ihrem strengen Vater etwas aufsagen musste, nur weil er es von ihr so hören wollte. Ihre zaghafte Stimme war ein Ausdruck dafür, dass sie selber nicht daran glaubte, was sie von sich gab. Hätten Kräfte ihren inneren Zustand manifestiert, wären bestimmt die Fäden wie bei einer Marionette sichtbar geworden, die sie in eine bestimmte Richtung lenkten. Vielleicht liegt Ben mit seinen Zusammenhängen doch richtig.
»Also gehen wir jetzt dort rein und genießen den Abend«, übernahm er nun doch die Entscheidung und zeigte auf das Neustadt-Centrum. »Sobald wir den fertigen Film gesehen haben, ist alles vorbei, Schatz. Dann hören die Ängste und Albträume endlich auf – und wir kriegen unser Leben zurück.«
Zumindest hoffte er das.
-2-
Schwungvoll öffnete Ben die Eingangstür. Wieder ließ er Laura den Vortritt, und wieder erinnerte ihn die Situation an seine Lesung in Halle am 18. Oktober 2014. Unvorstellbar, wie schnell die Zeit vergangen war. Für Ben fühlte es sich so an, als sei der Vorfall auf der Herrentoilette in der Buchhandlung erst gestern gewesen. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass sich das Gefühl, welches er jetzt verspürte, während sie an den Geschäften des überschaubaren Shopping-Centers vorbeiliefen, mit dem damaligen Erlebnis anscheinend wiederholen wollte. Der Anblick wirkte etwa so, als säße er im Zug und schaue der vorbeirasenden Landschaft zu. Es ist nicht möglich, dass sich dasselbe erneut abspielt – oder doch? Nein … Ich hab’ das Ganze nur noch nicht so richtig verarbeiten können, redete er sich instinktiv ein. Überzeugt und zufrieden war er dennoch nicht.
Laura hatte den Dreck wieder hervorgekramt, den er mühselig versucht hatte, unter den Teppich zu kehren. Ein Luftzug genügte … und der ganze Scheiß kam wieder nach oben gespült, als sei das Klo verstopft. Von einer Verarbeitung war gewiss keine Rede gewesen. Dieser Punkt stimmte zumindest.
»Sei froh, dass wir uns heute mal passiv verhalten dürfen«, meinte sie. Zack! Da war es wieder. Ben hatte sich nichts eingebildet. Laura las in ihm, als sei er selber ein Buch, das zwei Beine besaß und von Ort zu Ort wanderte, um den Menschen seine Weisheiten zu servieren. Bei diesem Gedanken musste er kurz schmunzeln – hielt sich jedoch die Hand vor den Mund und tat so, als müsse er sich kratzen. Sie sollte nichts davon mitbekommen. Wie aus dem Nichts draufloszulachen, war verrückt und stieß selten auf Bewunderung.
»Ob wir im Foyer auf alle warten sollten?«, fragte er stattdessen, während sie an der Rolltreppe vorbeiliefen, die zum Parkhaus führte. Das Kino befand sich zwanzig Meter vor ihnen auf der linken Seite am anderen Eingang des Centers.
»Nachher sind die besten Plätze weg«, antwortete sie. »Ich besorg’ uns Popcorn und warte im oberen Stockwerk. Du kannst schon mal vorgehen und die Lage im Saal checken.«
Als sie vor den Glastüren standen, stoppte Ben und sah nach oben: Über ihnen erstreckten sich mehrere eingerahmte Kinoplakate, die von der Rückseite durchleuchtet wurden. Das dritte von links zeigte das Buchcover seines Debütromans mit dem Titel Verschwunden im Wald. Ben hatte drauf bestanden, alles so zu belassen, wie es die Romanvorlage hergab. Selbst der Schriftzug saß an Ort und Stelle. Wiedererkennung war alles, wie er wusste. Erst das brachte den Erfolg.
»Ich kann es selber kaum fassen, dass wir gleich unseren eigenen Kinofilm sehen werden«, platzte es aus Laura heraus. Ihr war eindeutig anzumerken, dass sie die Spannung kaum noch aushielt. Sie musste grinsen und meinte darauf: »Verrückt, dass die Filmemacher von diesem Blockbuster heut’ Abend im Saal mit drinsitzen. Und nur wir wissen davon.«
»Bis auf die Kinoleitung, bei der wir uns gleich vorstellen müssen. Ansonsten werden wir nicht in den Genuss kommen, unsere eigene Premiere anzusehen. Außer, du willst incognito Kinokarten für uns kaufen und so tun, als ob …«
»Wird wohl kaum möglich sein, Schatz«, antwortete sie ihm und grinste wieder. »Die Dame meinte, dass alle Karten bereits restlos ausverkauft seien. Unglaublich, oder?«
Hoffentlich erleben wir keine unglaubliche Überraschung, fiel ihm ein. Sicherlich stammte diese Information wieder von seiner lästigen Stimme. Auch wenn er sie hasste: Ihr verdankte er es immerhin, dass er noch lebte. Hätte seine Intuition nicht ihren Mund aufgemacht, würde er schon gar nicht mehr auf dieser Erde umherwandern. Inzwischen war sie keine Begleiterscheinung mehr, sondern sein innerer Wegweiser. Andere wiederum, die dieses Gefühl kannten oder ähnliche Stimmen hörten, nannten es liebevolle Führung. Bei ihm war es jedoch alles andere als lieb: Eher war es eine Art strenge Erziehungsmethode – so, wie sie ihn des Öfteren runtermachte.
Nachdem sie das Foyer betreten hatten – und nun wie ein frisches Liebespärchen vor dem Ticketschalter standen –, sagte er: »Ben Sauermann.« Er zeigte mit einer flüchtigen Handbewegung auf seine Begleitung. »Laura Kissinger hat für heute Abend ein paar Freikarten reservieren lassen.«
»Guten Abend«, begann das brünette Mädel hinter der Glasscheibe und drückte auf einen eckigen Knopf, als säße sie in einer Bank und betätige den Alarm. »Warten Sie bitte noch einen Moment am Rand, ja? Die Kinoleitung kommt gleich zu ihnen.« Daraufhin wechselte sie zügig ihren Blick und kümmerte sich nicht weiter um sie: »Der Nächste, bitte!«
Ben trat mit Laura zur Seite und ließ ein älteres Paar vor. »Sehr freundlich!«, grunzte Ben leise vor sich hin. »Wenn wir das Projekt nicht durchgezogen hätten, säße die bestimmt jetzt nicht hier, um bunte Geldscheine einzusortieren.«
»Lass’ es gut sein, Schatz«, besänftigte sie ihn. »Es lohnt nicht, sich darüber aufzuregen. Dafür ist dieser besondere Abend einfach zu kostbar. Schluck’s einfach runter.«
Eigentlich war doch jeder Tag wie ein göttliches Geschenk, wie Ben seit den wahrgewordenen Albträumen am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Lauras Art führte schon zu einer inneren Ruhe – gewiss –, doch bei jeder verschissenen Kleinigkeit klein bei zu geben, war auch nicht das Gelbe vom Ei. Demut hin oder her: Wenn jeder Mensch auf diesem Planet so denken würde, drehe sich doch kein einziges Rädchen im bereits verkorksten Getriebe. Wenn ich nicht den Mund aufmache, betrüge ich mich selbst. Sag’ ich etwas, kommt’s zur Auseinandersetzung. Ein Problem, welches sich in unserer Gesellschaft tagtäglich abspielte – und mit welchem Ben ständig konfrontiert wurde. Seine Berufung als Buchautor führte ihn zu solchen Themen, mit denen er sich beschäftigen musste. Manchmal dachte er, dass er nicht nur ein Leben lenkte, sondern eine ganze Armada. Einerseits machte es Spaß, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen und sich in prekäre Situationen und Konflikte hineinzuversetzen … andererseits wirbelte er damit aber auch viel Staub auf. Was dem einen gefiel, passte wiederum dem anderen nicht. Das waren die Spielregeln.
Bestimmt hasst die Ticketdame ihren Job – und gönnt fremden Menschen den Erfolg nicht, nur weil ihre Angst und ihre Verpflichtungen sie vor großen Taten abhalten, die sie stattdessen lieber gerne machen würde.
Ben hatte längst erkannt, dass jeder Mensch eine besondere Begabung in sich trägt. Die meisten wussten jedoch nichts von ihrem Glück, weil sie sich lieber mit anderen Dingen beschäftigten. Vielleicht schaffte es ja sein Film, dass die breite Masse endlich erwachte, um hinter die Kulissen zu blicken.
»Da kommt jemand!«, rief Laura plötzlich und brachte Ben gedanklich zurück ins Kino. Für einen Augenblick war er woanders gewesen. Sie ging auf einen Herren mittlerem Alters in grauem Anzug zu und reichte ihm die Hand. Dann liefen beide zu Ben, der weiter an der linken Wandseite stand und die Menschen um sich herum blind und automatisiert beobachtete: Komisch, dass mich bisher noch niemand erkannt hat …
»Darf ich vorstellen?«, sagte Laura erfreut. »Ben Sauermann. Bestimmt haben Sie schon von ihm gehört.«
»Wer hat noch nicht vom berühmtesten Autor in Sachsen-Anhalt gehört?«, fragte er im Gegenzug und reichte Ben die Hand. Für ihn klangen seine Worte mehr als übertrieben.
Wenn ich der berühmteste Autor Sachsen-Anhalts bin, dachte er sich, warum tun dann die Leute so, als würden sie mich nicht kennen?
Darauf antwortete seine Stimme: Ganz einfach, mein lieber Ben: Weil sie zu sehr mit ihren Alltagsproblemen beschäftigt sind. Ihre Wahrnehmung wird dermaßen gefiltert, als schicke man den morgendlichen Kaffee durch hunderte von Filtertüten hindurch, anstatt durch eine.
Mit dieser Vorstellung erreichte die sonst gehässige Stimme bei ihm volle Punktzahl. Nicht nur, weil es einfach zutraf. Er konnte jetzt tatsächlich einen starken Kaffee gebrauchen.
Laura hatte sich mit dem Schlipsträger unterhalten, doch Ben hatte von dem zweiminütigen Gespräch kaum etwas mitbekommen. Stück für Stück wurde ihre Stimme lauter, als drehe jemand ihre innere Lautstärke hoch: »… aber sicherlich werden Sie es wohl ebenfalls kaum erwarten können.«
Daraufhin lachte der Mann und klopfte ihr auf die Schulter: »Sie haben es erraten, junge Dame. Wir finden es hochachtungsvoll, dass unser Kino die Premiere ausstrahlen darf. Unsere Konkurrenz wird nach diesem Abend wohl einpacken müssen. So viele Kinokarten waren bislang äußerst selten gleich im Voraus reserviert, um ganz ehrlich zu sein.«
So eine Unverschämtheit!, dachte Ben sich nur und wurde stinksauer. Erst berührt er Laura, als hätten sie ein heimliches Date miteinander … und dann macht der Typ auch noch das Kino in der Nähe des Hauptbahnhofes dumm – ja, brüstet sich sogar mit meinem Film und pinnt sich eine goldene Anstecknadel an sein billiges Jackett.
»Wir sollten jetzt nach oben gehen«, unterbrach Ben die beiden. Der Herr verabschiedete sich, wünschte ihnen einen unterhaltsamen Abend und lief zurück. Als er außer Sichtweite war, sagte er: »Aufdringlicher ging’s wohl nicht, was?«
»Wieso? Ich fand ihn ganz nett.«
»Wenn Filmemacher wie wir seine Taschen füllen, muss er uns ja nett finden. Immerhin sind wir seine Einnahmequelle.«
»Du kannst nicht jeden Anzugträger gleich verurteilen, nur weil du einmal schlechte Erfahrungen gemacht hast.«
»Das nicht«, meinte Ben erpicht, »doch Vorsicht ist oberstes Gebot in dieser Branche. Und das hab’ ich dir …«
»… schon tausendmal erzählt«, beendete sie genervt seine Rede. »Aber wenn du das immer wieder hervorkramst, wirst du deine inneren Probleme niemals los, Ben. Da hilft auch unser Film nicht! Er schafft höchstens nur neue Probleme.«
Autsch! Der hatte gesessen. Weil es mal wieder die verdammte Wahrheit war, die er nur schlecht verdauen konnte. Laura war nicht nur seine treue Begleitung und Weggefährtin, sondern sie spiegelte auch seine inneren Schwächen wider, wie es einst Lisa getan hatte, als er und seine Tante Susanne mit ihr in Halle-Neustadt immer unterwegs gewesen waren.
»Können wir jetzt?«, wich Ben eher ungeschickt aus. »Wenn wir noch länger rumstehen, verpassen wir den Film.«
Das war natürlich Quatsch. Sie hatten noch üppig Zeit. Laura folgte ihm und betrat die Rolltreppe hinter den Kassen. Ohne ein Wort zu sagen, fuhren sie ins Obergeschoss. Bevor sie das Foyer erreichten, hörten sie bereits lautes Getöse und Gekreische von ein paar Teenagern, die sich gegenseitig aufzogen. Laura und Ben bogen nach rechts ab und bemerkten eine weitere, lose Jugendgruppe, die linker Hand an der Popcorn-Ausgabe anstand. Ben warf im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf die beleuchteten Werbetafeln mit gelbem Hintergrund, die ihre Super-Spar-Angebote präsentierten:
Schlappe zehn Euro wollen die für eine mittlere Tüte samt Coke?, dachte er sich. Die müssen nicht mehr alle Latten am Zaun haben.
»Wollen wir uns ein Menü teilen?«, fragte Laura.
»Nee – lass’ mal«, antwortete er emotionslos. Nicht, dass Ben geizig war: Aber für simples Popcorn plus Getränk das Achtfache hinzublättern, passte einfach nicht zu seiner Lebensmoral, sparsam mit wertvollen Ressourcen umzugehen.
»Auch nicht zur Feier des Tages?«, versuchte es Laura weiter. »Einmal können wir uns das doch mal gönnen …«
»Wenn du dir unbedingt eine Portion holen möchtest, gebe ich dir einen Zehner. Ich werde mir jedenfalls nichts holen. Wir drehen doch keinen günstigen Film, um an einer anderen Stelle Leute überzubezahlen. Das Geld spende ich höchstens den Menschen da draußen, die es viel dringender brauchen.«
Laura wirkte in sich gekehrt und senkte den Blick. Dann: »Wenn das so ist, werde ich auch verzichten. Außerdem haben wir zu Hause noch drei Chipstüten herumliegen.«
Ben hatte ihr in den gemeinsamen Jahren eine Menge beigebracht, wie man auch mit geringen, finanziellen Mitteln gut über die Runden kommen konnte. Wenn du etwas nicht dringend benötigst, schlaf’ zwei Nächte drüber. In siebzig Prozent der Fälle entscheidest du dich anders, hatte er ihr eines Tages gesagt, als Laura sich Sorgen um ihre Existenz machte. Die Selbstständigkeit erforderte in den ersten Jahren ihren knallharten Tribut und mitunter eine Durststrecke, die es zu überwinden galt. Auch wenn derzeit alles glatt lief, so konnte sich das Blatt auch ganz schnell wenden und die marode Rückseite präsentieren. Es war sogar egal, ob man Angestellter war, als Selbstständiger seine Kunden glücklich machte oder als Millionär das Leben unter Palmen verbrachte: Hatte man seine Ausgaben nicht im Griff, sanken die finanziellen Kapazitäten wie der Wasserstand eines Gartenteiches bei einer Leckage. Die meisten Menschen in Bens Umkreis hatten nicht kapiert, dass es nicht um eine Einnahmenerhöhung, sondern um eine Ausgabenreduzierung ging, wenn man glücklich und frei sein wollte. Loslassen – mehr nicht. Er verglich dies mit der kürzlich erschienenen Abo-Falle der vielen Apps, die einen wie fremde Wesen von allen Seiten besuchten und diesen Planeten mittlerweile belagerten, als gäbe es nichts anderes: Ich kann die Leute nicht verstehen, die ihr ganzes Geld den Firmen hinterherschmeißen, hatte er gesagt. Haben die überhaupt ihre Finanzen im Blick?
Daraufhin hatte sie gemeint, dass ihre Freundin fünfzig Euro im Monat dafür ausgeben würde. Laura konnte selber nicht glauben, wie man so blind durch die Welt marschierte.
Kurioserweise träumen die Leute immer vom Reichtum, fügte er vor Kurzem hinzu. Hätten sie ihn, würden sie das Geld für Sinnlosigkeiten herausschleudern. Wenn man nicht lernt, mit dem Wenigen klarzukommen, schafft man es erst recht nicht mit größeren Dingen.
Als Laura noch einmal ihren Blick zur Werbetafel lenkte, die über der Bedienung angebracht war, musste sie an diese entscheidenden Sätze von Ben zurückdenken, die nun selber vor ihr aufflackerten. Es lag in ihrer Hand, sodass sie einwarf: »Wie in unserer Ausbildung, Ben. Wenn ich an den ehemaligen Betrieb zurückdenke, hab’ ich immer die vielen Lehrlinge vor Augen, die die halbe Kantine leerfutterten. Die meisten konnten sich nicht beherrschen, ihre Mägen zu straffen.«
»Gott sei Dank ist diese Zeit vorüber«, räumte er ein und ging zu einem Stehtisch herüber. Während Laura ihm wieder folgte, zog sie aus ihrer Handtasche ihr Handy hervor: »Hat dir schon jemand geschrieben?« Sie hatte ihren Blick geändert.
Ben griff in seine linke Hosentasche, holte sein iPhone heraus und erweckte es zum Leben: »Nein, nichts! Und wir haben nur noch eine halbe Stunde. Sie könnten uns ja wenigstens mal schreiben, wenn sie sich schon verspäten müssen.«
»Hauptsache, es ist nichts dazwischengekommen …«
»Was soll schon dazwischengekommen sein? Auch wenn Basti sonst immer pünktlich ist – meistens jedenfalls –, wird es eine Erklärung geben. Bei meiner Tante ist das normal.«
»Hat sie immer noch so viel um die Ohren?«
Er blickte nach unten und zog eine Serviette aus einer glänzenden Metallspenderbox, die in der Mitte des Rundtisches zwischen ihnen platziert war: »Meiner Meinung nach ist es sogar schlimmer geworden. Sie hat so viel Last auf sich genommen, dass ihr Leben nicht grad’ einfach verläuft.«
»Mir kam Susanne schon damals im Wald sehr angeschlagen vor, nachdem wir beschlossen hatten, nach Basti zu suchen. Und ich glaub’ nicht, dass es daran lag, weil wir die Filmaufnahmen unterbrechen mussten. Ihr lag was viel Belastenderes auf der Seele. Auf jeden Fall innere Probleme.«
»Das hast du sofort bemerkt?«, fragte er verwundert und sah zu ihr auf. »Du kanntest sie bisher doch nur flüchtig …«
»Als wir später nach dir suchten, hatten wir uns ein wenig unterhalten – über die mysteriösen Vorfälle und die ganzen Verstrickungen. Sie meinte, dass es irgendein Kraftfeld gäbe, welches sie mit Lisa öffnen wollte. Ich krieg’s aber nicht mehr zusammen. Das Wort, was sie gebrauchte, ist wie weg.«
»Hättest du nicht so lange gewartet und es mir gleich erzählt. Erinnerungen verblassen mit der Zeit … Laura! Wenn es um solche Themen geht, ist es verdammt nochmal wichtig, mir sofort Bescheid zu sagen – und nicht Monate danach.«
»Schatz! Es gab’ viel wichtigere Dinge – schon vergessen? Als du verschwunden warst – und wir nach dir suchten –, schwirrte mir alles Mögliche durch den Kopf, was mit dir geschehen sein könnte. Danach wollte ich mit dir im Anschluss sofort darüber reden, doch andauernd kam was dazwischen.«
»Weil das Filmprojekt nun mal Vorrang hatte«, lenkte er ein. »Wie du weißt, standen wir ziemlich unter Zeitdruck.«
»Susanne hatte jedenfalls etwas Entscheidendes mir versucht mitzuteilen. Und wenn mich nicht alles täuscht, fühlte es sich sogar wichtiger an, als die vielen Filmaufnahmen.«
Wieder so ein harter Brocken, den er schlucken musste. Konnte es wirklich sein, dass er das Wesentliche vor lauter Ehrgeiz glatt übersehen hatte? Laura hat häufig das Gespräch zwischen den Takes mit mir gesucht, wenn eine Pause anstand, fiel ihm sofort wieder ein. Warum hab’ ich Trottel dauernd den Film vorgeschoben? Und warum spricht sie ausgerechnet jetzt dies an?
»Ich muss noch schnell aufs Klo«, warf er daraufhin ein und ließ Laura am Stehtisch zurück. Innerhalb von wenigen Sekunden war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden.
Vielmehr hab’ ich noch was zu erledigen, dachte er im Stillen.
Einzigartige Graphic Novel: Erlebe alle Bände mit originalem Filmmaterial in einem illustrierten Werk
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Copyright 2022: Text by Marco Imm; Graphics by Jeannette Goerlitz
Art expression & novels - Die andere Art von Lesevergnügen
Wie alles begann ...
"Eigentlich sollte es doch nur eine ganz normale Pilzsuche werden", schildert Marco Imm, der am 11. Oktober 1997 zusammen mit seiner Familie auf ein unfassbares Ereignis stieß. Noch heute beschäftigt ihn das Thema so sehr, dass er sich über die damaligen Geschehnisse jeden Tag dieselben Fragen stellt: "Warum wir? Was wär' passiert, wenn ich mit meiner Tante das mysteriöse Objekt erreicht hätte? Würde ich heute überhaupt noch hier sitzen, und über diese Dinge Stück für Stück berichten können? Ich denke: Mit Sicherheit nicht ..." Während er in sich geht, sieht er auf eine Aufnahme aus dem Jahr 2015 (Abb. rechts) und zeigt auf die Mitte des Fotos: "Auch wenn der Weg heute ganz anders aussieht: An exakt dieser Stelle ist es damals passiert."
Zurück zum Anfang:
Marco Imm ist gerade acht Jahre alt und freut sich darauf, zusammen mit seiner Familie in die Pilze nach Helfta (b. Lutherstadt Eisleben) zu fahren. Während Marco und seine Eltern zu diesem Zeitpunkt noch in Gräfenhainichen beheimatet sind - einer Kleinstadt nahe FERROPOLIS in der Dübener Heide -, wohnen Marcos Tante Susanne, seine Oma Helga sowie ihr damaliger Lebensgefährte Gerhard in Halle (Saale). Sie treffen sich zunächst in der Haflingerstraße in Halle-Neustadt, um von dort aus über die B80 ins Waldstück zu gelangen. Schon während der Autofahrt hat Marco - neben Susanne auf der Rücksitzbank - ein ungutes Gefühl, welches er in seinen jungen Jahren noch nicht in Worte fassen kann. Der Druck in seinem Inneren verrät, dass bald irgendetwas Unheimliches geschehen wird.
Nachdem sie den Wald erreicht, und nach einer Weile eine Vielzahl an Pilzen gesammelt haben, endet plötzlich der Weg an einem Jägerstand. Dieser Ansitz sollte Marco noch lange im Gedächtnis bleiben - wie auch die nachfolgenden Minuten. Alle fünf beschließen - anstatt umzukehren und zurück zu ihren beiden Autos zu laufen -, einen schlängligen Pfad einzuschlagen, der weiter links durch knöchelhohes Gras führt. Als Gerhard anhält, um nach interessanten Pilzen in seinem Pilzbuch zu recherchieren, welche er am Wegesrand gesichtet hat, beschließen die anderen vier, schon mal weiterzulaufen: Gerhard solle nachkommen.
Marco, seine Mutter Monika, Helga sowie Susanne gelangen schließlich an eine Gabelung, die sich stark einer T-Kreuzung ähnelt. Sie beschließen, nach rechts abzubiegen, da auch linker Hand von ihnen der neue Waldweg im Gestrüpp endet. Letzterer ist breiter als der vorherige Pfad und weist zwei deutliche Fahrspuren auf, die ihnen merkwürdig vorkommen. In der Mitte wächst sattes Gras - ein ungewöhnlich grüner Wiesenstreifen, dass man einen Frühlingstag vermuten würde, und nicht die herbstliche Jahreszeit. Was sie in diesem Moment noch nicht ahnen, jedoch schon bald zu Gesicht bekommen und am eigenen Leib spüren werden: Alle vier sind aus der Zeit gefallen, als sie Gerhard vor wenigen Minuten zurückließen ...
"S-Seht ihr auch, was ich sehe?", sind die ersten Worte, die Marco von sich gibt. Um sie herum ist der Wald totenstill. Nicht mal ein Vogel ist zu hören. Er glaubt, dass er nur eine Fata Morgana sieht. Doch als seine Oma ihm zuerst antwortet, fallen alle Zweifel: "Da vorne steht ja eine Kutsche?!"
Zunächst denken die vier, dass jemand das Gefährt zufälligerweise dort abgestellt habe. Doch als auf einmal zwei Kinder aus der Kutsche springen und wie bei einer Zeremonie drum herumtanzen, glaubt Marco nicht mehr an einen Zufall: "Ein Junge und ein Mädchen - etwa in meinem damaligen Alter - trugen seltsame Kleidung", erinnert er sich. "Sie sahen wie zwei Kinder aus der TV-Serie Unsere kleine Farm aus. Das Besondere war allerdings, dass wir keine Pferde und auch keine Eltern sahen. Wir hörten nicht mal die Kinder oder einen Laut, obwohl sie doch so fröhlich drauf waren."
Marcos späteren Recherchen zufolge handelte es sich um eine Kutsche aus dem 17. Jahrhundert, was seine Mutter zum besagten Zeitpunkt im Wald richtig einschätzt. Voller Neugier wollen Marco und seine Tante zu den Kindern laufen, werden jedoch noch rechtzeitig von ihren beiden Müttern zurückgehalten: "Das war wohl unser Glück", ist sich Marco heute bewusst. "Wenn wir zur Kutsche gelaufen wären, würde ich heute bestimmt nicht hier sitzen. Ich glaub', wir hätten die zwei Kinder niemals erreicht, da sie eine Art Projektion gewesen waren." Doch er räumt sofort ein, um ein Missverständnis auszuschließen: "Aber eine Illusion war es definitiv nicht! Die Kutsche und auch die beiden Kinder waren echt - keine Einbildung, keine Halluzination, und auch kein Traum. Ich seh' sie heute noch vor mir, als sei das alles erst gestern passiert."
Er liegt richtig, als er sich Jahre später erneut ans Recherchieren macht. Die Geschichte mit der geheimnisvollen Kutsche geht ihm nicht mehr aus dem Kopf - zumal diese allen fünf das Leben rettete, nachdem sie zu viert zu Gerhard zurückgelaufen waren, um ihn von den Pilzen wegzuziehen: "Heute wissen wir, dass es sich damals um Giftpilze gehandelt hat", meint Marco. Er pausiert kurz und erklärt dann: "Ich sehe noch den Lebensgefährten meiner Oma vor meinem geistigen Auge, wie er unsicher die Pilze am Rand des Pfades betrachtet. Für ihn schienen nur wenige Sekunden vergangen zu sein, während wir weg waren. Ein genaues Zeitgefühl haben wir vier heute nicht mehr. Keiner weiß, was in den paar Minuten mit uns und der Kutsche geschah. Aber eines ist Fakt: Wären wir vor Aufregung nicht zu viert zurückgelaufen, hätte er die Pilze garantiert in den Korb gelegt. Das wär' dann vermutlich das Ende für uns alle gewesen."
Als die vier mit ihm zurücklaufen, um ihm die Kutsche zu zeigen, ist diese spurlos verschwunden. Anscheinend soll Gerhard das Objekt und die Kinder nicht sehen. Ob es mit der Abstammung und den Vorfahren von Marco und seiner Familie zu tun hat, kann niemand bestätigen. "Wir haben damals nach Spuren gesucht", erzählt Marco. "Von der Kutsche war weit und breit nichts mehr zu sehen. Gerhard hielt uns für verrückt; und wir können es bis heute nicht wirklich begreifen, auch wenn ich darüber meinen Debütroman verfasst habe, um die Geschichte für mich selber zu verarbeiten. Jahrelang hielten wir die Story unter Verschluss, doch nächtliche Albträume plagten mich und brachten mich letztendlich dazu, mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich dachte mir, dass es bestimmt auch andere Menschen da draußen gibt, die von ähnlichen Fällen berichten können. Es ist so, dass man mit solchen Themen schnell gegen die Wand läuft und seine eigenen Sinne sowie seinen Verstand hinterfragt. Die meisten glauben nur das, was sie sehen - und das akzeptiere ich. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich genauso denken."
Doch es kommt noch anders. Als Marco im Jahr 2015 mit seiner Familie erneut nach Helfta fährt, um die Geschichte von damals zu rekonstruieren und ein paar Fotos vom Waldweg aufzunehmen, stößt er am Abend während einer Internetsuche auf ein altes Dokument vom 22. Mai 1626. Was so brisant ist: In den Mansfelder Blättern des 14. Jahrgangs von 1900 wird von einem Raubüberfall am selben Ort während des Dreißigjährigen Krieges berichtet.
Darin steht, Zitat:
Gestern fuhren sie, "die jungen wehrlosen Kinder", zur Hochzeit des gräflichen Sekretärs Nicolaus Gruner nach Hettstedt, wurden dabei unterwegs auf ihrem eigenen Gebiet, Grund und Boden von einer Kompanie sächsischer Reiter vorsätzlicherweise überfallen, geplündert, ihres Vaters Leibkutscher wurde mit drei Schüssen getötet, dem Fähnrich Schubert ein Diener erschossen und ein Junge vom Pferde geschlagen ... Sie haben das nicht verschuldet, zumal sie sich immer willig erzeigten und noch jetzt die Kompanie des Rittmeisters von Weißbach und eine Kompanie Fußvolk im Quartier haben ... Nach Aussage der Reiter ihrer Konvoi waren die Täter von der zu Helbra, Benndorf und Helfta liegenden Kompanie Cicogna. [...]
[Auszug aus den Mansfelder Blättern, 14. Jahrgang 1900, S. 113]
Es handelt sich somit um einen der wenigen, bekannten Fälle einer Zeitreisen-Sichtung, die von vier Augenzeugen bestätigt sowie anhand von Unterlagen belegt werden kann. Private Videoaufnahmen in Helfta auf einer VHS-Kassette vom 18. Oktober 1997 - exakt eine Woche nach dem Ereignis -, die denselben Waldweg zeigen, existieren noch heute ...
Zum Drehbuchautor & Filmmaker
Marco Imm, 1988 in Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) geboren, wuchs in der Stadt Gräfenhainichen auf. Bereits in der Schulzeit fand er jede Menge Freude am Schreiben und Erzählen von Geschichten.
Nach seiner Ausbildung zum Elektroniker schrieb er als freier Fachautor für mehrere Verlage, und drehte außerdem über 150 Reportagen und Clips, welche insgesamt auf der Videoplattform YouTube erschienen.
Ein mysteriöses Ereignis im Wald bei Helfta (Eisleben) lieferte den Grundstein für packende Thriller, welche überwiegend auf wahren Ereignissen basieren.
Im Oktober 2019 brachte er seinen ersten Roman Verschwunden im Wald heraus, gefolgt von seinem zweiten Werk Spuren vergangener Zeiten im Januar 2021. Beide Werke erschienen bis Februar 2024 im BoD Books on Demand Verlag, Norderstedt.
Sein eigenes Thriller-Serienmagazin The Graphic Novel (Band 3) erschien erstmals im April 2022 auf MaJa-TV - anfangs noch in einer schmalen Beta-Version. Seit März 2024 sind nun alle seine Werke exklusiv hier auf MaJa-TV für angehende Darsteller in vollem Umfang verfügbar.
Marco Imm spricht in seinen Büchern die Themen der Angstbewältigung sowie der Selbstfindung an. Als Experten-Autor hat er sich vor allem auf die Problematiken von paranormalen Phänomenen, Zeitlinien, morphischen Feldern, Dimensionsschichten, holografischen Projektionen sowie der Quantenmechanik spezialisiert. Zu seinen Kernschwerpunkten zählen die Bewusstseins- und Traumforschung, Parallelwelten und Schwarze Löcher.
Von Oktober 2023 bis Februar 2024 liefen die Vorbereitungen für die Verfilmung seiner Werke. Die Dreharbeiten begannen bereits Ende Februar 2024 - und erstreckten sich hauptsächlich im Raum Halle (Saale) sowie Gräfenhainichen an realen Drehorten des Geschehens.
Die fertigen Spielfilm-Clips sind nicht nur Teil von The Graphic Novel, um die letzten Lücken zwischen Buch und Fernsehen zu schließen. MaJa-TV unterstützt mit dieser einzigartigen Schauspiel- und Kunstförderung vor allem engagierte Nachwuchstalente und Jungdarsteller:innen, um diesen eine berufliche Grundlage zu ermöglichen.